Weiße Tannen am Oberhof
ISBN e-book: 978-3-7487-0579-6
ISBN Taschenbuch: 978-3-7485-4733-4
Leopold Weber kommt als junger Mann rein zufällig auf den Oberhof. Eigentlich nur, um ein wenig Geld zu verdienen. Dass sich dort sein Leben für immer verändern könnte, damit rechnet er nicht. Schon gar nicht damit, dass er sich hoffnungslos verliebt. Eine Liebe, die ihm nicht vergönnt sein wird, weil sie nur für kurze Zeit Teil seines Selbst wird. Denn ausleben und erleben darf er sie nicht. Dennoch werden diese wenigen Jahre, die er dort, an jenem Ort, erlebt, sein ganzes Leben beeinflussen wie nie etwas anderes, das er zuvor oder danach jemals erlebt hat. Viele Jahre gehen ins Land – Jahre, in denen er versucht, diese eine bedeutungsvolle Begegnung, die ihn so sehr geprägt hat, zu vergessen. Oder zumindest zu verarbeiten, zu verstehen. Jahre, in denen er versucht, mit den Erinnerungen zu leben. Doch es gelingt ihm schlichtweg nicht. In den letzten Wochen seines Lebens versucht er nun, all das, was ihn so lange und intensiv beschäftigt hat, erneut aufzuarbeiten. Die Erinnerungen an eine bessere Zeit, Erlebnisse, die seinen Weg bestimmt haben, sind einfach zu tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Die Liebe, die er nie hat leben dürfen, kann er nicht mehr zurückholen. Und doch hat sie ihn stets begleitet. Er will sie noch einmal erfahren, diese Gefühle – indem er sich an sie erinnert, dort, wo alles begonnen hat. Alles ist vergänglich, aber träumen, das kann er. Und eines wird ihm ganz bewusst: Man kann sich den Tod nicht aussuchen. Das Leben …. allerdings auch nicht
Weiße Tannen am Oberhof
von
Olaf Maly
2019©Olaf Maly
Kapitel 1 (Auszug)
„Es ist spät geworden“, sagte Maria. Sie stand langsam auf, streckte sich ein wenig, nahm ihre Brille vom Tisch und versuchte, sich einen Weg vorbei an den Beinen und Füßen der anderen zu bahnen, die wenig Lust hatten, ihr Platz zu machen. Es ging ihr nicht gut an diesem Abend. Irgendwie war sie müde geworden. Keiner sagte etwas zu ihr, alle schauten sie nur an, als sie versuchte, sich durch den Dschungel von Beinen zu schlängeln. Keiner unterbrach, was er gerade tat. Auch nicht, um jemandem Platz zu machen. Man lachte, redete, trank, stieß die Gläser zusammen und freute sich des Lebens.
Es war dunkel geworden. Der Mond hatte sich hinter den Wolken versteckt, die nur noch erahnen ließen, dass er am Himmel stand. Das fahle gelbliche Licht, gefiltert durch dünne Wolkenfetzen, zauberte seltsame Schatten von den hohen Tannen, die neben dem Haus standen.
Das meiste Licht, das die Terrasse vor dem Haus etwas erhellte, kam, wenn auch schwach gedämpft, aus dem Fenster dahinter. Dort war die Bibliothek, wie man den Raum nannte, auch wenn es dort nur wenige Bücher gab. Und schon überhaupt gar kein Regal, in dem diese stehen konnten. Meistens waren es Illustrierte, die verstreut auf einem kleinen Tisch lagen. Alte, zerfledderte Hefte, die schon hundertmal gelesen waren. Die meisten Seiten fehlten. Fing man an, eine Geschichte zu lesen, hörte sie irgendwo auf einmal auf. Die nächsten Seiten waren herausgerissen. Den Rest musste man sich also denken. Vielleicht war das der Reiz. Jeder dachte sich den Fortgang anders aus. Dann erzählte man davon, und hatte jemand den Anfang auch schon gelesen, ergaben sich erhitzte Diskussionen, was denn nun das Ende hätte sein können.
Der gemeinsame Fernsehapparat stand dort, einige Sessel, ein alter Plattenspieler mit zwei großen Lautsprechern. Der Fernseher war ein sehr altes Modell, groß, klobig, mit kleinem Bildschirm. Wenn man wirklich etwas sehen wollte, musste man sehr nahe heranrücken. Als man ihn kaufte, war es das größte Modell, das es gab. Das war allerdings schon sehr lange her. Nussbaum furniert. Mit goldenem Rand und einem Lautsprecher auf der Seite, der mit einem goldfarbenen Netz abgedeckt war. Es war an der Seite eingerissen. Wenn der Ton an war, schwang das Netz dort, wo es gerissen war, mit. Man konnte meinen, es ließ den Ton herausblasen. Die Leute, die im Haus wohnten, sahen kein fern, sie wussten nicht einmal, warum sie so etwas wie diese „Kiste“, wie man es allgemein nannte, hatten. Es war mehr ein Relikt der Vergangenheit. Man sträubte sich, es wegzuwerfen. Man schmiss alte Sachen nicht weg, nur weil sie alt waren. Man selbst war alt.
Eine kleine Lampe, die über dem Eingang montiert war, trug seitlich am Haus noch etwas zur Helligkeit bei. Es hellte den Bereich nicht unbedingt gewaltig auf, nur konnte man mehr sehen als ohne diese fahlgelbe Strahlung. Man hatte auch noch eine Stehlampe, die neben der Couch stand, eingeschaltet. Der große dunkelbraune Lampenschirm, der tief nach unten reichte, nahm das meiste Licht auf, ohne es wieder abzugeben.
Das Fenster zur Bibliothek war leicht geöffnet. Der durchsichtige Vorhang schwebte wie schwerelos davor auf und ab. Er züngelte sich nach innen, in den Raum, wie eine weiße Flamme aus Stoff. Er zeigte sich dann wieder durch das offene Fenster, wenn der Wind es einen Spalt weiter geöffnet hatte. Ein paar Kerzen, die auf dem alten Tisch standen, flackerten sanft.
Kurt Edermann hatte auf dem Plattenspieler Mahler aufgelegt. Die erste Symphonie. Sehr zum Unbehagen einiger Anwesenden, die sich aber seufzend irgendwann damit abfanden und es ganz einfach ignorierten. Sie konnten ohnehin nichts dagegen tun. Die Musik passte sehr gut zur Stimmung, zur Natur, zum lauen Abend, wie Kurt Edermann meinte. Er saß mit dem Rücken zum offenen Fenster, hatte also den besten Platz.
Sie waren an diesem Abend alle noch zusammen auf der Couch und den Sesseln gesessen, vorne auf der Veranda, die seitlich und teilweise auch vorne, mit einem Geländer begrenzt war. Die senkrechten Stützen des Geländers waren alle einzeln gedreht und sahen aus wie kleine Säulen. Die, die man über die Jahre auswechseln musste, waren alle ein wenig anders. Dicker, schwerfälliger. Andere waren auch schlanker. Nie schien man die richtigen Proportionen wiedergefunden zu haben. Sie hatten sicherlich nicht die Eleganz der ersten Generation, erfüllten aber ihre Bestimmung. Auch die Farbe war oft unterschiedlich.
Alle zwei Meter waren diese Säulen mit kräftigeren Exemplaren nach oben verlängert, um den Balkon zu halten, der über der Terrasse hing. Niemand betrat mehr diesen Balkon, da man berechtigte Angst hatte, er würde einen nicht mehr tragen. Schief hing er irgendwie in der Wand. Nur Blumenkästen gab es dort im Sommer, die Maria in ihrem unerschütterlichen Optimismus das 'der wird schon noch halten' jedes Jahr dort pflanzte. Sie war dann auch die einzige, die es wagte, dort hinauszugehen.
Man musste, um nach oben auf die Veranda zu kommen, ein paar Stufen hochgehen, die mittig angebracht waren. Es war der Haupteingang, als es noch der Hof war und die Gutsherren das Haus bewohnten. Der Betrieb selbst lag abgeschirmt hinter einer Mauer. Das war sehr lange her, aber man konnte sehr wohl noch die Grandiosität erahnen, wenn man vor dem Eingang stand.
Vor der erhöhten Terrasse gab es einen kleinen Kreis, in der Mitte stand eine Tanne. Sie war sehr klein, diese Tanne, als Maria sie mit ihrem Vater gepflanzt hatte. Sie hatten sie aus dem Wald geholt, vorsichtig ausgegraben und dann dort wieder eingepflanzt. Heute war sie viele Meter hoch und versperrte den Blick auf die kleinen Hügel, die im Osten lagen. Der Kreis war auch die Zufahrt zum Eingang, die, dort von der Hauptstraße kommend, endete. Der Dienstboteneingang lag seitlich, ebenerdig, an der Südseite. Dort waren auch die Parkplätze der Autos. Man hatte nur zwei, und die nahmen fast die ganze Länge des Hauses ein.
Die Gruppe, die den Oberhof ihr Zuhause nannten und ihn zu dem machten, was er war, saß an diesem Abend noch gemütlich zusammen. Ein großes Abenteuer war es, dachte man. Ein Lebensabenteuer, das zu Ende ging. Unweigerlich. Unaufhaltsam. Also musste man die Stunden, die man noch hatte, genießen. Man erzählte, lachte und trank. Das alte Sofa und die verschlissenen Sessel waren alle eingenommen. Vor ihnen stand ein abgenutzter kleiner Holztisch, der an sich schon lange in den Müll sollte. Aber niemand hatte es bisher übers Herz gebracht, das endlich einmal zu tun. Solange man etwas darauf abstellen oder ablegen konnte, war er noch zu etwas nutze. Warum also wegwerfen.
Er hatte wahrscheinlich viel gesehen in seinem Leben, dieser Tisch, was man sehr wohl an all den Ringen ablesen konnte, die Gläser im Laufe der Zeit auf dem verworfenen Furnier hinterlassen hatten. Teilweise war es an den Rändern sogar abgeblättert und gab die Spanplatte frei, auf die man es geklebt hatte. Als hätte man ihm die Haut abgezogen und sein Inneres bloßgelegt. Es wäre sicher sehr interessant gewesen, all die Geschichten zu hören, die um ihn herum stattgefunden haben. Geschichten, die die Zeit ausmachten, in der er Mittelpunkt war. Nur die meisten dieser Geschichten waren schon viel zu lange eben genau das. Geschichten, die sich aufgelöst hatten und die keiner mehr hören wollte. Man hatte ohnehin keine Geduld mehr, mit all den Gefühlen, Erlebnissen und verlorenen Ereignissen umzugehen, die irgendwo im Nichts verschwunden waren. Man wollte auch nicht der Traurigkeit nachhängen, die sich ergab, wenn man nostalgisch an etwas dachte, das in Wirklichkeit gar nicht so war. Was zählte, war die Zukunft, die doch so viel mehr zu bieten hatte. Man vergaß dabei immer, dass man nur in der Gegenwart leben konnte. Ein Zustand, den es eigentlich gar nicht gab, wenn man so darüber nachdachte. Die Zukunft ist nichts als ein Traum, der noch nicht einmal angefangen hatte. Man ahnte, wie es weitergehen konnte, das war alles. Die Vergangenheit ist längst gewesen und nur noch Erinnerung. Dazwischen war nur das absolute Nichts. Und dort hielten wir uns auf.
Eine kleine, blaue Tischdecke, die all die Jahre und die Feste, die hier stattgefunden hatten, auch nicht richtig darunter verbergen konnte, war gut genug, ihm das Recht zu geben, dort zu stehen. Auch wenn sie ihn nicht ganz bedeckte, sie gab ihm ein gewisses Attribut der Schönheit. Marias Mutter hatte die Tischdecke einmal selbst genäht, aus einem alten Hemd, das zerrissen war, und Maria hatte sie später geerbt. Das war im Winter, wenn das Wetter kalt war und der Schnee schwer unter den Schuhen klebte und einem der Atem in der Nase fror. Dann hatte man Zeit dazu, solche Sachen zu erledigen. Man saß am Kamin, freute sich, dass man es warm hatte, sang leise ein Lied vor sich hin und beschäftigte sich.
Marias Mutter war besonders begabt in dieser Richtung, wenn es um solche Dinge ging. Singen und Musizieren waren ihre Leidenschaft und wann immer sich die Möglichkeit ergab, holte sie ihr Hackbrett heraus und stimmte ein bisschen Stubenmusik an. Der Knecht Heronimus zupfte leise auf der Gitarre. Dann ermunterte sie ihre Kinder, dazu zu singen. Er hieß wirklich Heronimus, jedenfalls sagte er das, als er um Arbeit fragte und eingestellt wurde, weil gerade jemand gebraucht wurde. Keiner interessierte sich dafür, wie er hieß und ob es stimmte oder nicht. Und er wusste die Gitarre zu spielen. Es waren schöne Erinnerungen, die man sich auf die Reise des Lebens mitnehmen konnte.
Es war ein warmer, samtiger Abend, als alle sich zusammenfanden. Einer von denen, die man zählen konnte hier in Oberbayern, wo es gerade einmal zwei Monate so angenehm warm war, dass man ohne Jacke herumlaufen konnte. Den Rest des Jahres regnete es entweder oder der Schnee, die Kälte, und der Wind ließen einen nicht aus dem Haus. Dann waren es immer nur die Krähen, die man den ganzen Tag hörte und die ihr Lied von der Traurigkeit in die Welt sangen. Man sang keine fröhlichen Lieder bei diesem Wetter. Auch Vögel nicht. Und Krähen schon überhaupt nicht.
Und wenn man dann doch aus dem Haus musste, dann zog man sich alles an, was man hatte, nur um nicht zu erfrieren. Es war ein harsches Klima, das die Menschen prägte, sie zu dem werden ließ, was sie sind. Zurückgezogen in sich selbst, leben sie meistens stumm vor sich hin, dem Schicksal ergeben. Sie redeten wenig, dort auf den Höfen, die vereinzelt in die karge Landschaft gestellt wurden. Nur das Nötigste. Als würde es zu viel Kraft kosten, etwas zu sagen. Und was sollte man auch schon sagen. Nichts passierte, was es wert gewesen wäre, darüber zu reden. Außer jemand starb oder ein Kind wurde geboren. Jeder hatte dasselbe Los zu tragen und seine Erfahrungen zu machen. Das war kein Grund, sich gegenseitig die Zeit zu stehlen.
Man sah es auch in den Gesichtern, die eine dunkle, lederartige Haut umspannte. Die Augen waren tief in den Höhlen, die Nasen immer rot und von vielen kleinen Adern durchzogen. Auch die Backen hatten diese Färbung, vom endlosen Wind, der immer von den Bergen herunterblies und einem manchmal die Luft nahm, wenn man sich ihm entgegenstellte. Dann stand man auf dem Feld, zog den Kopf tief in die Schultern, den Hut nach vorne übers Gesicht und verfluchte den Tag, der so gut angefangen und sich mit all den vielen schwarzen Wolken wieder verabschiedet hatte. Wenn man nass bis auf die Knochen war, klebte der Lehm in schweren Brocken an den Schuhen, die dem Gewicht nicht standhielten. Die Sohle gab nach, aufgeweicht und schlapp fiel sie vom Schuh. Wieder mehr Arbeit, die man nicht brauchen konnte.
Aber diese Zeiten waren lange vorbei. Das waren die Mühen der Vorfahren, nicht die der jetzigen Generation.
Die Menschen, die sich an diesem Abend auf der Terrasse zusammengefunden hatten, mussten nicht mehr aus dem Haus, wenn sie nicht wollten. Sie konnten sich aussuchen, wo sie sich aufhalten wollten. Sie waren, sozusagen, angekommen. Man hatte kein anderes Ziel mehr. Man war selbst das Ziel geworden.
An diesem Abend war die Luft wie Seide und sie schwang im Rhythmus der Schöpfung. Ein leises Säuseln war alles, was man wahrnehmen konnte. Die Blätter in den Bäumen ergaben sich dem leichten Wind und raschelten wie ein leiser Besen auf einem Schlagzeugbecken zu zärtlicher Jazzmusik.
Die Frösche quakten um die Wette, weit entfernt, dort unten am Teich, der mehr als zweihundert Meter weg war. Man nahm sie wahr, leise zwar, aber dennoch. Sie bildeten den Hintergrund der Geräusche der Nacht. Es waren meistens Erdkröten. Die warzigen, braunen, schlammigen Genossen, die es dort in Mengen gab. Der Teich war vom Haus aus nicht zu sehen, aber jeder wusste, dass er dort lag. Man nahm nicht diese Richtung, wenn man spazieren ging, da dort der Weg endete und nur undurchdringlicher Wald anfing. Der Weg zum nächsten Dorf führte mehrere Meter westlich daran vorbei. Er war dunkel, geheimnisvoll und tief. Man konnte ihn hören, diesen Weiher, wenn man seine Ohren aufmachte und sich die Zeit dazu nahm. Jede Nacht gab er seine Existenz preis durch Plätschern und ein leises Rauschen. Ein kleiner Bach, der über große, blank gewaschene Steine floss, endete dort, nur um im Erdreich zu versickern. Es knackten Äste, die über die Zeit herunterfielen und sich am Boden häuften. Dann raschelte das Laub, wenn sich etwas dort auf den Weg machte. Man sah es nicht, wusste aber, dass dort Leben war.
Dieser modrige Teich lag in einer kleinen Mulde, umgeben von großen, alten, gewichtigen Eichen, Buchen und Tannen, die dort schon lange standen, bevor sich jemand in ihrer Nähe niedergelassen hatte. Sie waren in dieser Gegend die Zeichen der Ewigkeit und der Unvergänglichkeit. Dann gab es diese Sumpfpflanzen, die besonders im Sommer immer alles zu wucherten. Man erzählte in der Gegend, dass der Teich sehr tief sei und schon einige versucht hatten, nach unten zu tauchen. Keiner wäre bisher wieder aufgetaucht. Das waren wahrscheinlich mehr Märchen, die man hauptsächlich erzählte, damit Kinder dort nicht hineinsprangen. Aber sicher konnte man sich nicht sein.
Auch sollte es dort einen Karpfen geben, der mehr als zwei Meter lang sei. Gesehen hatte ihn noch niemand, aber wenn man die Leute fragte, die in der Gegend wohnten, sprachen sie mit Ehrfurcht von diesem Monster.
Man hatte vor Jahren alte Feuersteine dort am Ufer gefunden, die darauf hindeuteten, dass es an diesem Platz schon Menschen gab, die nichts anderes hatten als sich selbst und ein Dach aus Ästen und Laub, wenn sie eines brauchten. Es muss also schon damals, vor vielen Tausenden von Jahren, diese Wasserstelle gegeben haben. Sicher der Grund, warum sich diese Menschen dort trafen.
Wenn man am Steg stand, den einmal jemand völlig grundlos und wahrscheinlich nur aus reiner Lust gebaut hatte, damit man sich dort niederlassen konnte, war immer dieses leise Platschen zu hören. Es waren die Fische, die in diesem Brackwasser lebten und wahrscheinlich vor lauter Lebensfreude Sprünge machten. Man sah sie nicht, und wenn, dann nur sehr kurzzeitig. Ein goldfarbener, fast spiegelnder, kleiner Bauch kam für eine Sekunde aus dem Wasser, nur um sofort wieder in der Dunkelheit zu versinken. Viel mussten sie nicht befürchten, konnten sich sehr wohl sehen lassen, wenn sie sprangen. Man ließ sie leben.
Glühwürmchen flogen vor dem Haus in unregelmäßigen und launenhaften Bewegungen ihre leuchtenden, nervös irritierenden Bahnen. Motten umkreisten das trübe Licht in einem unerfindlichen Drang nach Wärme und Sonne, die sie doch nie zu sehen bekamen. Was sie erwartete, war der Tod, nicht das Leben, wenn sie ihr Ziel ansteuerten und es endlich erreicht hatten. Sie sehnten sich danach, zu sterben, so schien es.
Es roch nach frisch geschnittenem, nassem Gras, das noch auf der Wiese vor dem Haus lag und darauf wartete, eingebracht zu werden. Je später der Abend wurde, so feuchter und intensiver war der Geruch, den alle so liebten und der vielleicht auch einer der vielen Gründe war, hier zu wohnen. Ob man sich nun dessen bewusst war oder nicht.
Der Wein und das Bier flossen noch kräftig, man hatte sich eingedeckt und gedachte so schnell nicht ins Bett zu gehen. Es gab viel zu erzählen. Man lachte, stieß mit den Gläsern an. Man freute sich, hier zu sein. Das Leben, das man hinter sich hatte, war es wert von anderen erfahren zu werden. Man erzählte sich gegenseitig die Geschichten, die alle schon so oft gehört hatten, und die dennoch immer wieder anders waren. Immer wieder neu und interessant und umso aufregender, je öfter man sie sich erzählte. Mahlers Erste lief schon zum dritten Mal. Der Plattenspieler fing automatisch immer wieder an der ersten Rille an, wenn sich der Tonarm abhob und an den Anfang zurückschwang. So hörte man nur den ersten Satz.