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Wiesnblues

ISBN e-book: 978-3-7438-8704-6 

ISBN Taschenbuch: 978-3-7531-6925-5

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Eines ist so sicher wie das Amen in der Kirche: Wenn in München Wiesn ist, was eigentlich Oktoberfest heißen soll, findet man Herbert Wengler bei seiner Cousine in Aschau. Und das schon seit vielen Jahren. Es ist, im Gegensatz zur Hauptstadt, eine ruhige Zeit dort draußen auf dem Land, da die meisten sich eben in München zum Dauerbesäufnis befinden. Aber das ist ihm gerade recht. Was gibt es Schöneres, denkt er sich immer, wenn er dort ist, als morgens mit einer Tasse Kaffee auf dem Balkon zu stehen und den Kühen beim Grasen zuzusehen? Normalerweise ist es auch eine gemächliche Zeit für die Münchener Polizei. Außer den üblichen Auseinandersetzungen natürlich, die sich um diese Zeit ein wenig häufen, was mit dem Konsum von Alkohol verbunden ist. Aber die gehen meistens relativ glimpflich aus, und die Kontrahenten landen, wenn überhaupt, gerade einmal im Krankenhaus. Oder in der Ausnüchterungszelle. Bis auf zwei auswärtige Bedienungen, die auf mysteriöse Weise in ihren jungen Jahren das Zeitliche segnen müssen. Und das natürlich nicht ganz freiwillig. Das wiederum nötigt den Kommissar, seinen Aufenthalt in Aschau um einen Tag zu verkürzen, was er selbstverständlich nur unter Protest tut. Und in der Gewissheit, dass ohne ihn eben die Menschen in seinem geliebten München nicht mehr ruhig schlafen können. Wie meistens, so stehen Herbert Wengler und Armin Staller wieder vor einem Rätsel, das sich langsam, aber sicher durch Akribie und Hartnäckigkeit des Kommissars wie von selbst löst.

Wiesnblues

von

Olaf Maly

 

2020©Olaf Maly

 

 

Kapitel 2 

 

Es war schon weit nach Mitternacht an diesem Samstag, dem letzten des Oktoberfestes. Morgen gäbe es noch einen Tag, und dann würden die Fahrgeschäfte, die Wurst- und Hähnchenbuden, die Fischsemmelbuden, die Karusselle und die Bierzelte wieder schließen und abgebaut. Die Bierzelte würden verstaut werden und darauf warten, dass ein ganzes Jahr wieder vorbei geht. Die Karussells treten eine Reise an, die sie im Kreis durch alle Länder des Kontinents führten, um dann wieder am Ausgangspunkt anzukommen.

Für ein ganzes Jahr wird wieder totale Leere sein auf der Theresienwiese. Wie ein tristes, braches Feld würde sie daliegen, und wenn man nicht wüsste, wozu das Areal einmal im Jahr für zwei Wochen gebraucht wird, könnte man meinen, man hätte den Platz vergessen. Den Rest des Jahres war es sicher nicht schön, dieses Feld aus zerbrochenem Beton, kahlen Wiesenresten und grauen Teerstreifen. Kümmerliche, abgetretene Rasenstücke, unterbrochen von schmutzigen Wegen, aufgeteilt in gleich große Parzellen. Vereinzelt gingen um diese Zeit Leute mit ihren Hunden spazieren, Tauben versammelten sich und Radfahrer nutzten ihn als Abkürzung durch die Stadt. Wenn man morgens an einem Novembertag dort hingeht, sieht man nichts als Tristesse, schwachen Bodennebel und Pfützen, in denen sich der graue Himmel spiegelt. Sogar die im Sommer grünen Wiesenreste sind nur noch braun und schmutzig. Ein trauriger Anblick, der nur durch diese zwei Wochen etwas aufgehellt wird. Dann erwacht der Platz für ein paar Stunden am Tag zum Leben. Wenn es dann dunkel wird, ergießt sich ein Lichtermeer über den Platz, das fast die ganze Stadt erleuchtet. Kakophonie überdeckt jedes natürliche Geräusch. Es riecht nach gebrannten Mandeln, der Fischbraterei, dem Ochsen am Spieß und vor allem nach abgestandenem Bier.

Auch für Gregor Wader war es der letzte Tag, an dem er sich auslassen konnte, wie er wollte. Morgen, am Sonntag, würde er den ganzen Tag brauchen, um wieder einigermaßen in die Reihe zu kommen, damit er am Montag seinen Dienst versehen konnte. Er war Wachmann in der Firma Scheiter und Söhne, einem Betrieb in Freimann, der Kunststoffteile für die Automobilindustrie herstellte. Nicht dass das wichtig für die Geschichte wäre, aber es sollte dennoch erwähnt werden.

Gregor Wader war gerade einmal etwas über dreißig, ledig, und er hatte ein Problem. Das Bier. Eigentlich hatte er mehrere Probleme, wie Aggressivität, Spielleidenschaft und Unzuverlässigkeit, nur um die wichtigsten zu nennen. Diese lästigen Schwierigkeiten zusammengefasst, machte sein Leben nicht gerade einfacher. Er wusste das, wollte es auch immer wieder ändern, aber wie das Leben so spielte, hatte er nur wenig Macht über sich selbst. Das war wenigstens seine gängigste Ausrede, dass er eben nichts dafür und auch nichts dagegen unternehmen konnte. Wenn er Durst hatte, musste er sich diesen eben mit Bier löschen. Wasser oder ähnliche Ersatzmittel waren nicht in seinem Arsenal zu finden, was wiederum seine nicht so guten Merkmale zur Geltung kommen ließ. Oft landete er dann in der Ausnüchterungszelle des Polizeireviers seines Wohnsitzes.

An diesem Samstagabend, es war eigentlich schon fast Sonntagfrüh, ging er über eine verlassene Wiesn, auf der Hauptstraße, die sich von Nord nach Süd am Platz dahinzog, zur U-Bahn-Station Theresienwiese. Er war im Hofbräu-Festzelt, ging Richtung Norden am Löwenbräu und der Fischer-Vroni vorbei zum Ausgang. Nur wenige Menschen waren um diese Zeit noch unterwegs. Ein paar sichtlich verloren gegangene Paare, die ineinander hingen, damit sie überhaupt einigermaßen aufrecht blieben. Ständig mussten sie anhalten, um sich zu umarmen und abzuküssen. Oder einer von den beiden musste einmal kurz in die Büsche. Dann gab es noch die Polizisten, die langsam durch die Straße schlenderten und jedem sagten, dass jetzt Schluss sei und sie nach Hause gehen sollten. Als ob das nicht jeder selbst sehen würde. Man blickte sie nur müde lächelnd an und ging seiner Wege. Ein paar grölende Jugendliche, die sich kaum aufrecht halten konnten und ständig lachten, machten sich einen Spaß daraus, andere anzurempeln, nur um sich dann großartig mit ausladenden Verbeugungen zu entschuldigen. Das gehörte zum Spiel. Wenn dann einer etwas sagte, konnte es schon sein, dass man ihm eine ins Gesicht schlug. Auch das war oft Teil des Dramas. Alle wussten das, also ließ man sie in Ruhe.

Luftballone stiegen in den schwarzen Himmel, um dort in die Unendlichkeit zu verschwinden. Gregor Wader sah einem nach und dachte sich, wie schön es wäre, auch in die Höhen zu entfliehen. Einfach nach oben, bis man keine Luft mehr bekam. Als er in den dunklen Himmel sah, blinkten ein paar Sterne, die er im Meer der bunten Lampen um ihn herum gerade noch erkennen konnte. Vielleicht lag es daran, dass die Lichter immer weniger wurden. Ein Geschäft nach dem anderen schaltete die Musik und die Beleuchtung aus, hängte Planen um die Gestelle, zurrte Seile fest, damit sie nicht weggeblasen werden konnten. Noch ein Tag, dann musste man alles einpacken und in die weite Welt ziehen. Wo immer das war.

 Einmal war er im bayerischen Wald, da er dort eine Großtante hatte, die plötzlich gestorben war, und er zum Begräbnis hinfuhr. Er kannte sie fast nicht, aber der Onkel, der Sohn der Großtante, war einmal geschäftlich in München und hatte ihn kontaktiert. Sie hatten zusammen eine Bierreise gemacht, die ein ganzes Wochenende gedauert hatte. Dabei sind sie sich näher gekommen, also hat er ihn zum Begräbnis eingeladen.

Es war ein feuchtes Unterfangen. Nach der üblichen Beisetzung und den überschwänglichen Reden von der Einzigartigkeit dieser Frau begab sich die Gesellschaft in die Dorfkneipe, in der schon ein Büfett aufgebaut war. Es gab belegte Brote mit selbst geräuchertem niederbayerischem Schinken, ölige verbrannte Hamburger und abgestandenen Kartoffelsalat. Und Bier. Viel Bier und selbst gebrannten Schnaps.

Er erinnerte sich nicht an viel, aber an den unheimlich dunklen schwarzen Himmel dort. Er stand mitten in der Nacht auf, um auf die Toilette zu gehen, und wankte danach auf den Balkon, der an seinem Zimmer angebaut war, das er in der Kneipe für die Nacht bekommen hatte. Er wusste damals nicht warum, aber als er dort stand und nach oben blickte, sah er nichts als Sterne. Millionen von Sternen. So viel hatte er noch nie gesehen, in seinem ganzen Leben. Er war in der Stadt aufgewachsen, also waren ihm viele Dinge, die es in der freien Natur gab, nicht geläufig. Er konnte es gar nicht glauben, wie viele es von diesen leuchtenden Punkten am Firmament gab. Eine ganze Weile stand er nur da und staunte. Als er das am nächsten Morgen am Frühstückstisch erzählte, sahen ihn alle entgeistert an und dachten, er sei noch betrunken. Also zuckte er nur mit den Schultern und beließ es dabei. Nur vergessen hatte er das nie.

Langsam wurden es immer weniger Leute, denen er auf seinem Weg zur U-Bahn ausweichen musste. Er begegnete den letzten der Betrunkenen, die eben nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden hatten, nach Hause zu gehen, die ihn nur kurz ansahen und dann an ihm vorbeigingen. Es wurde leer. Ein paar, die es nicht mehr schafften, hatten sich einfach am Rand der Bierzelte niedergelegt und wollten schlafen. Ein Sanitätswagen fuhr langsam auf und ab und sammelte diese Bierleichen, wie man sie nannte, ein. Dann brachte man sie in ein Zelt mit einem roten Kreuz darauf und legte sie auf eine Pritsche, damit sie ihren Rausch ausschlafen konnten. Die Sanitäter hatten sicher noch ein paar Stunden zu tun, wenn man sich so umblickte.

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