Mord in der Manege
Eine Kommissar Wengler Geschichte
ISBN 13-978-0-692-24703-7
Es ist April in München. Der Fasching ist vorbei, die Biergärten sind noch geschlossen. Auch das Wetter lässt zu wünschen übrig. Um diese Zeit herum nichts Ungewöhnliches. Trostlose Tage eben. Wäre da nicht der Zirkus, der willkommene Abwechslung verspricht. Jedes Jahr um diese Zeit warten alle auf ihn, den Wagenzug, der Träume erweckt. Die kleinen und die großen Kinder. Ein Zug, der uns in eine Welt eintauchen lässt, in der wir auch gerne leben würden, hätten wir nur den Mut dazu. In eine Welt, die wir nicht verstehen, die uns aber immer wieder aufs Neue fasziniert. Es ergibt sich allerdings, dass dieser fahrende Tross gerade hier in München seine schwärzeste Stunde erleben muss. Der Eigentümer, Direktor und Conférencier – kurz, die Seele des Unternehmens – wird tot in der Manege aufgefunden. Rätselhafte Beziehungen, Teil dieser mysteriösen Gesellschaft, machen es nicht einfacher für Kommissar Wengler, den wahren Täter zu finden. Man gibt ihm Hinweise, die nur eine Person infrage zu kommen lassen scheinen. Doch der Kommissar hat zu viel Erfahrung, als dass er sich von solchen Hinweisen beeinflussen ließe.
Mord in der Manege
Eine Kommissar Wengler Geschichte
von
Olaf Maly
2014©Olaf Maly
Kapitel 1 (Auszug)
Wenn im April die ersten Krokusse durch den noch halb gefrorenen Boden sprießen, wenn die Sonne die letzten schmutzig-grauen Schneeberge, die man über den Winter aufgeschüttet hatte, langsam wegschmelzen lässt und nur noch schwarz glitzernder Sand übrig bleibt, dort an der Theresienwiese, dann kommt der Zirkus nach München. Jedes Jahr um dieselbe Zeit. Immer in der ersten Hälfte des Aprils.
In Münchens eigenem Zirkus, der während der Winterzeit in einem festen Bau seine glorreichen Tage hat, wurden schon vor Wochen die Zelte zusammengepackt. Man hat sie auf die großen Wagen gebunden, wie alles, was man braucht, um den Kindern große Augen zu machen. Auch den großen Kindern, die nicht herausgewachsen sind aus den blauen Schuhen mit den kleinen Riemchen, den kurzen Röckchen, den zu kurzen Hosen. Der Clown hatte noch seine letzten Tränen vergossen, am letzten Abend, bei der letzten Vorstellung. Tränen, die wie Fontänen aus seinen Augen spritzten. Man musste darüber lachen, wenn er so bitterlich weinte. Er würde seine Kinder nicht wiedersehen. Jedenfalls nicht für eine Weile. Grund genug zu weinen.
Die Musik war zu Ende. Alle standen auf und hofften, dass es nicht das letzte Mal war. Aber die Hoffnung war vergebens. Die Lichter würden ausgehen, die Türen verschlossen, die Ställe für die Tiere würden verwaist sein. Bis zum nächsten Jahr. Bis zum nächsten Weihnachten.
Es war Tradition in München, dass man um die Weihnachtszeit in den Zirkus ging. Es gehörte dazu. Weihnachten war nicht Weihnachten, wenn man nicht im Zirkus gewesen war.
Aber Weihnachten war lange vorbei. Die Zeit, in der man nicht genau wusste, was man machen sollte, war angebrochen und würde sich noch Monate hinziehen. Man hatte keinen Halt, man konnte sich nicht auf irgendwelche Tage freuen. Außer Ostern, aber das war zu weit weg. So weit wie der Mond und der Frühling. Ja, da war noch der Fasching, aber der war in München auf ein paar Tage beschränkt. Und auf ein paar Bälle für die Tanzverrückten. Danach kam die Fastenzeit. Nach den Regeln der Kirche durfte man nichts essen, sondern nur trinken. Bier vor allem, und das in jeder Menge. Also hat man den Nockherberg erschaffen. Nicht richtig erschaffen, sondern eher als Tradition weitergeführt, seit dem 17. Jahrhundert. Die Paulaner Mönche haben diese Tradition eingeführt. Da diese sich nur sehr karg ernähren durften und in der Fastenzeit noch weniger zum Essen hatten als ohnehin, kamen sie auf die Idee, flüssiges Brot einzuführen. Das Starkbier eben. Und das schon vor 280 Jahren.
Auch einen Biergarten hat man am 'Berg', wie man diese Stätte gemeinhin nennt – und jeder in München weiß, was damit gemeint ist. Nur, um diese Zeit war der geschlossen. Es war erst April, also noch kein Sommer. Jedenfalls nicht in München. Es dauerte noch lange, bis man endlich wieder in den Biergarten gehen, man an der Isar die Füße in das kalte Wasser stecken und sich eine tropfende Nase holen konnte.
Dazwischen aber gab es den Zirkus auf der Theresienwiese. 'Zirkus Tropkow' stand auf den Plakaten, die man schon Tage vorher auf allen Litfaßsäulen sehen konnte. Wenn auch noch nicht mal ein einziger Wagen angerollt war. Die Vorhut hatte sie angeklebt. Die Kinder liefen dann herum und teilten es jedem mit, der es wissen wollte. Oder auch nicht wissen wollte.
„Der Zirkus kommt!“, riefen sie, „der Zirkus kommt!“
Und sie konnten nicht laut genug schreien.
Dann, an einem Montag – es war immer ein Montag – kamen sie, in einer langen Prozession. Ein Wagen nach dem anderen. Erst die Wagen mit dem blauen Zelt, den großen Stangen und langen Seilen. Dann die kleineren, mit den vergitterten Fenstern für die Tiere. Früher wurden diese Wagen von Pferden gezogen, davor marschierte die Kapelle, die immer diese Musik spielte, die man nur im Zirkus hörte. Marschmusik. Trommelwirbel, wenn es besonders spannend werden sollte. Trompeten für den Clown, der meist stumm seine Späße machte und dem man dadurch eine Stimme verlieh.
Rote Uniformen hatten die Musikanten an, mit goldenen, glitzernden Aufsätzen auf der Jacke und einem goldenen Streifen an der Hosennaht. Der Tambour war immer auch der Conférencier, der während der Vorstellung allen mitteilte, wer als Nächstes seine Kunst darbieten sollte. An diesem Tag, beim Einmarsch in die Stadt, war er der erste, der dem Volk seine Truppe vorstellte.
Nach den großen Wagen und denen mit dem Gitter am Fenster kamen dann die Wohnwagen und die Mannschaftswagen. Den Abschluss bildeten die Versorgungstruppen und der Kassenwagen. Elefanten und Pferde, manchmal auch Kamele, liefen neben den Wagen, bestaunt vom Spalier der Menschen an der Straße, die so etwas oft noch nie gesehen hatten.
Heute waren es Lastwagen, große Trucks, wie man sie nannte, die einfach alles hinter sich herzogen, als wäre es einfache, wertlose Ware. Zirkus ist keine Ware. Er ist eine Institution, ein Traum, den man sehen und erleben kann, in dem man aufgehen kann, ohne eingeschlafen zu sein. Man hat ihm dadurch die Illusion genommen. Die moderne Technik hat ihn der Illusion beraubt und zu etwas Profanem gemacht. Man muss nun träumen, um sich verzaubern zu lassen. Es gab keine Kapelle mehr, die voran marschierte, keinen Tambour, der den Stock schwang und seine mit Gold eingefassten Zähne breit dem Publikum am Straßenrand darbot. Es war einfacher geworden.
An einem Montag im April standen sie einfach auf einmal auf der Theresienwiese und bauten ihr Zelt auf. Für die erste Vorstellung am Mittwochnachmittag. Und keiner hatte am Straßenrand gestanden und ihnen zugejubelt. Sie waren einfach da. Der ganze Zug der Wagen war ganz einfach zur Theresienwiese gefahren, ohne Aufsehen zu erregen. Keiner hat zugesehen. Auch Kinder haben die bunten Wagen nicht mit großen Augen bestaunt. Es gab niemanden, der sie bestaunt hätte. Einfach so, ohne etwas zu sagen, waren sie eingetroffen.